Münster (pbm/sk). Auf dem Tisch steht eine leere Flasche Riesling von der Mosel. Leer? Der Gastgeber sieht das anders: Er legt die Flasche auf den Tisch, die letzten Tropfen lösen sich, er schenkt sie seinem Gast ein. Der Gastgeber, von dem die Rede ist, ist Felix Genn, 75. Nachfolger des heiligen Liudger als Bischof von Münster. Und die Szene kennt jeder, den der Bischof einmal zum Essen eingeladen hat. Moselwein, natürlich immer in Maßen, gehört für Felix Genn zum Leben dazu. Sicher wird er einen Riesling auch heute, am 9. März, genießen. Denn: Papst Franziskus hat sein altersbedingtes Rücktrittsgesuch zum 9. März angenommen. Damit endet seine Amtszeit als Bischof von Münster.
Bodenständig und fromm
Dass Felix Genn einmal für 16 Jahre an der Spitze des Bistums Münster stehen würde, hätte lange Zeit niemand erwartet. Denn der Bauernsohn aus der Eifel ist alles andere als ein Lautsprecher oder Karrierist. Geboren in Burgbrohl, wuchs er in Wassenach am Laacher See auf. Seiner Eifeler Heimat fühlt er sich bis heute verbunden. Das kirchlich verwurzelte bäuerliche Elternhaus prägte ihn: Felix Genn ist immer bodenständig, bescheiden und realistisch geblieben. Um seine eigene Person macht er nie irgendeinen Aufwand. Nach dem Abitur in Andernach und dem Theologiestudium in Trier und Regensburg wurde Felix Genn 1976 zum Priester geweiht. Erste Erfahrungen in der Seelsorge sammelte er zwei Jahre als Kaplan in Bad Kreuznach. 1978, im Alter von 28 Jahren, wurde er Subregens (Stellvertretender Leiter) am Bischöflichen Priesterseminar in Trier und 1985, nach seiner Promotion zum Dr. theol. mit einer Arbeit über den heiligen Augustinus, Spiritual. Damit war er für die geistliche Begleitung und Ausbildung der Priesteramtskandidaten zuständig. Von 1994 bis 1997 nahm er einen Lehrauftrag für Christliche Spiritualität an der Theologischen Fakultät Trier wahr. Beeinflusst und geprägt wurde sein Denken und seine eigene Spiritualität vom Schweizer Theologen Hans-Urs von Balthasar, mit dem er auch persönlich eng verbunden war.
„Frömmigkeit ist sozusagen sein Beruf“, sagen Menschen, die Felix Genn gut kennen. Ganz sicher ist „Frömmigkeit“ im Sinne einer tiefen Spiritualität seine eigentliche Berufung, die er sich auch als Bischof bewahrt hat. „Bevor ich das entscheide, muss ich ins Gebet gehen“, hat er oft vor schwierigen Entscheidungen gesagt. Für seinen eigenen Glauben spielt das Gebet, vielleicht noch besser das Gespräch mit Gott und das Hören auf das, was Gott ihm zu sagen hat, die entscheidende Rolle.
Prägend: Heilig-Rock-Wallfahrt 1996
So war es für ihn auch eine Selbstverständlichkeit, dass im Vorfeld der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt von 1996, deren Leiter er war und zu der 700.000 Menschen an die Mosel zur Tunika Christi pilgern sollten, in der gesamten Diözese eine geistliche Vorbereitung in Form von Exerzitien im Alltag auf das Großereignis stattfand. Die Heilig-Rock-Wallfahrt 1996, die unter dem Leitwort „Menschen auf dem Weg mit Jesus Christus“ stand, war vielleicht die glücklichste und erfüllendste Zeit im bisherigen Leben Felix Genns. Als Wallfahrtsleiter war er in den vier Wochen immer mitten unter den Menschen, ohne jede Berührungsängste. So, als ‚Bischof zum Anfassen‘, der neugierig auf die Menschen ist, erlebten die Münsteraner ihren Bischof viele Jahre später vor allem bei den großen kirchlichen Festen, die hier gefeiert wurden:
2014 beim 750-jährigen Domjubiläum und 2018 beim Katholikentag. Und so erlebten ihn auch die vielen Jugendlichen, denen er im Münsterland oder am Niederrhein das Sakrament der Firmung spendete. Die Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt von 1996 prägte auch das Kirchenbild von Felix Genn. So schrieb er an ihrem Ende: „Nicht das Bild großer Pontifikalämter, vieler kirchlicher Amtsträger bleibt für diese Wallfahrt prägend, sondern die Kirche als Volk Gottes auf dem Weg.“ So wie Felix Genn die HeiligRock-Wallfahrt erlebte, wünscht er sich Kirche: „Freundlich, unaufdringlich, einladend und niemanden vereinnahmend.“
Die Erfahrung der Wallfahrt war derart intensiv, dass er bis heute immer wieder gerne an diesen Ort zurückkehrt. Das Ahrtal und Trier sind seine Heimat. Es vergeht kaum ein Trierer Bistumsfest, die jährlichen Heilig-Rock-Tage, das er nicht mitfeiert. Zugleich ist ihm Münster zum Zuhause geworden, in dem er sich spürbar wohlfühlt. So wird er auch als Bischof emeritus in Münster wohnen bleiben, direkt am Domplatz.
Herausgefordert als Ruhrbischof
1997 übernahm Felix Genn die Leitung des Studienhauses St. Lambert in Lantershofen, einem Seminar für spätberufene Priesteramtskandidaten. 1999 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Titularbischof von Uzali und Weihbischof in Trier. Als Bischofsvikar war er für den Visitationsbezirk an der Saar zuständig. Als Wahlspruch entschied er sich für: „Wir verkünden Euch das Leben“. Von Trier bzw. dem Saarland führte ihn der Weg aber nicht direkt nach Münster, sondern 2003 als dritten Bischof ins junge Bistum Essen. Felix Genn wurde Ruhrbischof. Die Region zwischen Rhein, Ruhr und Lenne kannte er bis dahin nur aus der Ferne. Und bei seiner Wahl ahnte er vermutlich nicht, was auf ihn zukommen sollte. Vielleicht war ihm klar, dass der Strukturwandel nicht nur den Bergbau, Opel oder Nokia treffen würde, sondern auch das Ruhrbistum selbst. Doch dass die finanzielle Situation so dramatisch war, war ihm beim Amtsantritt sicher nicht bewusst: „Der Blick in den Haushaltsplan wurde zu einem Blick in den finanziellen Abgrund“, schrieb im Rückblick die FAZ. Felix Genn hatte keine Wahl. Er stellte sich der Verantwortung: Kirchengebäude wurden aufgegeben, Gemeinden zusammengelegt, die Zahl der katholischen Kindergärten reduziert, Mitarbeiter entlassen. Für den Bischof eine schmerzvolle Erfahrung, wurde er doch persönlich für diese Strukturveränderungen verantwortlich gemacht und angegriffen. So war das Amt als Ruhrbischof sicher auch eine Bürde für ihn. Zugleich war er überzeugt, dass es unverantwortlich wäre, so zu tun, als ob alles einfach so weitergehen könne wie bisher: „Wir müssen diese große pastorale Herausforderung annehmen und den Umbruch der Kirche gestalten. Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden hat eine Sendung zu erfüllen – auch
mit weniger Mitteln.“
Den von ihm für das Ruhrbistum ins Auge gefassten geistlichen Prozess im Zusammenhang mit den Umstrukturierungen, konnte er nicht mehr leiten. Papst Benedikt XVI. ernannte ihn im Dezember 2008 zum 76. Bischof von Münster. Ende März 2009 wurde er in sein neues Amt eingeführt.
Bischof von Münster in Zeiten des Wandels
In Münster waren die finanziellen Herausforderungen für Felix Genn deutlich geringer als in Essen. Dennoch waren auch die Jahre als Bischof von Münster alles andere als einfach. Das Bekanntwerden der Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester, insbesondere ab dem Jahr 2010, traf Felix Genn ins Mark. Natürlich wusste auch er, dass es sexuellen Missbrauch durch Priester gegeben hatte, doch die Vielzahl und die Massivität der „Fälle“, führten das Priesterbild, an das Felix Genn viele Jahre geglaubt hatte, ad absurdum. Im Blick auf seine eigene Rolle und Verantwortung nahm Felix Genn kein Blatt vor den Mund und redete nicht drum herum: „Ich war und bin Teil des Systems, das sexuellen Missbrauch möglich gemacht hat. Das bin ich seit vielen Jahren an verantwortlicher Stelle. Von daher habe ich neben der persönlichen auch eine institutionelle Verantwortung. In dieser doppelten
Hinsicht trage ich eine Mitverantwortung für das Leid von Menschen, die sexuell missbraucht wurden“, sagte er 2022, als die Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster vorgestellt wurde.
Wichtig war es ihm bei diesem Thema, nicht nur mit Worten, sondern im Tun die Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn er sich – jenseits der Öffentlichkeit – mit Betroffenen traf, war er immer wieder aufs Neue erschüttert, sowohl von dem immensen Leid, das Priester ihnen zugefügt hatten als auch von der Vertuschung durch kirchliche Verantwortungsträger. Es war vielleicht das einzige Thema, bei dem man den sonst so ruhigen und beherrschten Felix Genn nicht nur fassungslos, sondern wütend und aufbrausend erleben konnte.
Für zentral hielt und hält er beim Thema des sexuellen Missbrauchs, aber auch generell, eine offene, transparente und zeitgemäße Kommunikation. Ihm ist völlig klar, dass die Kirche junge Menschen heute vor allem auch über die Sozialen Netzwerke erreichen kann. Auch, wenn er selbst alles andere als ein Digital Native ist, eröffnete er doch einen großen Freiheits- und Handlungsspielraum für eine professionelle Kommunikation und brachte sich auch selbst mit unterschiedlichen Formaten immer wieder ein. Zugleich, und das ist keineswegs ein Widerspruch, ist er aus seinem tiefsten Inneren heraus davon überzeugt, dass der Glaube an Jesus Christus am besten von Mensch zu Mensch überspringen kann: „Der Glaube kommt auf zwei Beinen“ bringt er das immer wieder auf den Punkt. Pastoral setzte er im Bistum Münster unter anderem mit dem Diözesanpastoralplan besondere Akzente. Er lebte in der Diözese – schon lange vor dem Synodalen Weg, dem Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland, – eine synodale Kirche vor. Zugleich warb er für eine Kirche, die in ökumenischer Verbundenheit gerne für die Menschen da ist und die die Beziehung zu den Menschen und zu Gott fördert.
Zur Verkündigung gehören für ihn aber auch deutliche Worte zu sozialen und politischen Themen. Die Not der Flüchtlinge geht ihm persönlich unter die Haut; Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Antisemitismus sind ihm zuwider; der Schutz des Lebens am Anfang und am Ende darf für ihn nicht zur Disposition stehen. So mischte er sich als Bischof von Münster immer wieder in die politischen Diskussionen in Deutschland ein. In der Stadt Münster ist seine Stimme eine, die Gewicht hat und gehört wird.
Hohes Ansehen in der Bischofskonferenz und in Rom
Vielleicht gerade weil Felix Genn vieles ohne großes Aufsehen und auf leise Weise tat und tut, wurde und wird auch innerkirchlich auf das, was er sagt, sehr genau gehört. Sowohl in der katholischen Kirche in Deutschland als auch in Rom. Sein Ansehen war so groß, dass er 2014 bei der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, die in Münster tagte, fast zu deren Vorsitzendem gewählt worden wäre. In der ihm eigenen, sehr ernst gemeinten Bescheidenheit sagte er im internen Kreis nach der Wahl von Kardinal Reinhard Marx: „Wir wissen alle, dass das die bessere Wahl ist.“ Gewundert hatte er sich im Vorfeld, dass ausgerechnet konservative Bischöfe ihn offenbar zum Vorsitzenden wählen wollten: „Die wissen, glaube ich, gar nicht, auf wen sie sich eingelassen hätten“, schmunzelte er gegenüber Vertrauten. Denn, wer Felix Genn in die Schublade „liberal“ oder „konservativ“ steckt, liegt
immer daneben. Das sind für ihn keine Kriterien, die seine Entscheidungen prägen. Ein Revoluzzer war Felix Genn nie. Aber er sah und sieht die Notwendigkeit von Veränderungen in der Kirche. So war er von Beginn an ein entschiedener Verfechter des „Synodalen Wegs“. Immer wieder warb er dafür, die Macht der Priester zu beschränken und dem bei manchen seiner Mitbrüder, aber auch bei manchen Laien verbreiteten Klerikalismus ein Ende zu bereiten. „Warum muss jemand in allen Fragen das Sagen haben, nur weil er geweiht ist?“, fragte er häufig. Im Bistum Münster traf er bis kurz vor Ende seiner Amtszeit noch richtungsweisende Entscheidungen, die darauf hinzielen, Macht, Verantwortung und Entscheidungskompetenzen stärker zu teilen. Als im Diözesanrat, dem obersten synodalen Gremium im Bistum, einmal ein Laie von Felix Genn forderte, er müsse deutlicher sagen, was erlaubt und was verboten sei, konterte der Bischof: „Ich vertraue darauf, dass Sie das gut und richtig machen werden.“ Und gab es einmal heftigere Auseinandersetzungen, war es Bischof Felix Genn in der jesuitischen Tradition des heiligen Ignatius stets wichtig, „die Meinung des anderen zu retten“. Diese Haltung und das hohe Ansehen führten wohl auch dazu, dass Papst Franziskus Felix Genn Ende 2013 zum Mitglied der vatikanischen Bischofskongregation, dem heutigen Dikasterium für die Bischöfe, ernannte. Die Kurienbehörde ist eine Art Personalabteilung für Bischöfe und für die Vorbereitung von Bischofsernennungen in der ganzen Welt zuständig. Ein enormer Vertrauensbeweis des Heiligen Vaters für Felix Genn. Auch als Bischof emeritus bleibt er bis 2029 Mitglied des Dikasteriums.
Ad multos annos!
Vertrauen hat Felix Genn aber nicht nur selbst erfahren, sondern seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch immer wieder geschenkt. Diese haben ganz überwiegend sehr gerne mit ‚Bischof Felix‘, wie er im Bistum genannt und angesprochen wird, gearbeitet. Viele von ihnen werden nicht nur den Bischof Felix Genn vermissen, sondern insbesondere den Menschen. Aber wie gesagt: er bleibt dem Bistum und der Stadt Münster erhalten. Und so wird es auch künftig sicher noch die eine oder andere Gelegenheit für ein Zusammentreffen geben, bei der dann gewiss eine gute Flasche Mosel-Riesling auf den Tisch kommt. Und gewiss ist auch: Felix Genn wird sie, wenn sie fast schon leer ist, auf den Tisch legen, die letzten Tropfen werden sich lösen und er wird sie sie seinem Gast einschenken.
In diesem Sinne: Ad multos annos!
Foto: Bischöfliche Pressestelle